- Architektur nach 1945: Siegeszug der Moderne
- Architektur nach 1945: Siegeszug der ModerneDass Anschauungen und Stil der Moderne jemals mehrheitsfähig werden und sich als internationaler Standard durchsetzen könnten, war zwar schon früh eine Hoffnung ihrer Verfechter gewesen, zeichnete sich in der Realität aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg ab. Ihren Siegeszug trat die Moderne von den USA aus an, einem Land, in dem fortschrittliche Positionen seit Beginn des Jahrhunderts nur von wenigen Architekten vertreten wurden. Frank Lloyd Wright hatte sich nach privaten Skandalen 1916 nach Japan zurückgezogen, kehrte aber in den Zwanzigerjahren in die USA zurück, wo er in den Südstaaten eine Reihe von Privatbauten errichtete, die einen eigenwilligen Regionalismus pflegten. Erst 1936 suchte er mit Bauten in Pennsylvania und Wisconsin, darunter der Johnson Wax Factory in Racine, wieder die Auseinandersetzung mit internationalen Entwicklungen.Im Hochhausbau, der klassischen Domäne der amerikanischen Architektur, hatte sich Chicago seit dem Ende des 19. Jahrhunderts historisierenden Tendenzen, New York seit den Zwanzigerjahren einem ornamental orientierten Dekorationsstil, dem »Art Déco«, verschrieben. Nur wenige Architekten bemühten sich, Anregungen der europäischen Moderne aufzunehmen. Zu ihnen gehörte der gebürtige Österreicher Richard Neutra, der mit Adolf Loos und Erich Mendelsohn zusammengearbeitet hatte, bevor er 1923 in die USA auswanderte und in Kalifornien eine Reihe großzügiger Einzelhäuser baute.Größten Einfluss auf die amerikanische Architektur übten seit den Vierzigerjahren die Immigranten Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe aus. Gropius, der zuletzt schon in Deutschland mehr an technischen und wirtschaftlichen Problemlösungen als an der Weiterentwicklung seiner Architektursprache gearbeitet hatte, widmete sich hauptsächlich der Lehre und ließ seine künstlerische Handschrift immer weiter hinter die anonyme Teamarbeit des von ihm gegründeten Büros »The Architects Collaborative« zurücktreten.Mies, vor seiner Emigration der letzte Direktor des Bauhauses, verknüpfte dagegen eine äußerst erfolgreiche Lehrtätigkeit mit einer zunehmend produktiven Entwurfspraxis. In den Fünfzigerjahren wurden seine Bauten tonangebend in der amerikanischen Architektur und fanden hier wie in Europa zahlreiche Nachfolger. Kennzeichnend für das amerikanische Werk von Mies ist die vertiefte Auseinandersetzung mit der Tradition der Chicagoer Schule. Auf der Grundlage der Stahlskelettbauweise entwickelte Mies einen sachlichen, geometrisch disziplinierten Stil, der seine spezifische Eleganz und Würde vornehmlich durch klare Proportionen und durch eine unverhüllte, material- und detailbewusste Darstellung der Konstruktion am Außenbau erzielte. In der Formel »less is more« fasste Mies sein ästhetisches Credo zusammen. Zu Mies' größten Erfolgen zählten seine Hochhäuser der Vierziger- und Fünfzigerjahre: In den Lake Shore Drive Apartments in Chicago konzipierte er zwei gegeneinander versetzte Wohntürme als Gruppe, dem Seagram Building in New York lagerte er entgegen aller Konvention eine Freifläche vor. In diesen beispielhaften Entwürfen bemühte sich Mies vor allem darum, dem Hochhausbau raumbildende Qualitäten im städtischen Kontext abzugewinnen.Neben Mies war es in den Fünfzigerjahren erneut Wright, dem die amerikanische Architektur ihre internationale Ausstrahlung verdankte. Das Guggenheim Museum in New York, ab 1956 nach älteren Plänen errichtet, markierte in seiner organisch-funktionalen Disposition und seiner expressiven, körperhaften Formensprache eine Gegenposition zu Mies' asketischem Formideal, die man vor allem in Europa stark beachtete.Bereits 1928 hatte der internationale Austausch der modernen Architekten in der Organisation CIAM, den »Congrès Internationaux d'Architecture Moderne«, ein dauerhaftes Forum gefunden. Wichtigster Ideenlieferant war Le Corbusier, der seine städtebaulichen Positionen in die 1933 verabschiedete »Charta von Athen« einbringen konnte. Für den Wiederaufbau in den kriegszerstörten Ländern Europas sollten sich die dort formulierten Leitsätze eines funktionalen Städtebaus als äußerst folgenreich erweisen. Grundgedanke war die konsequente Trennung der Bereiche Arbeit, Wohnen und Verkehr.Als Beitrag zum Wiederaufbau verstand Le Corbusier auch seine Wohnkonzepte der Vierziger- und Fünfzigerjahre. Der als Standardmodell für europäische Städte gedachte Entwurf der »Unité d'habitation«, erstmals 1948 in Marseille realisiert, vereinigte in einem lang gestreckten, vielstöckigen Baukörper variabel zugeschnittene Wohneinheiten und ausgedehnte Gemeinschaftsflächen. Während das funktionale Prinzip unmittelbar an Le Corbusier Leitsätze der Zwanzigerjahre anknüpfte, offenbarte der Bau mit seinem aus den Maßverhältnissen des menschlichen Körpers und des Goldenen Schnitts entwickelten Proportionssystem, dem »Modulor«, und der expressiven, plastischen Architektur seiner Fassaden einen neuen formalen Ansatz im Werk des Architekten. Das Ideal des weißen, glatten Baukörpers, das die Architektur des »Internationalen Stils« einschließlich der Bauten Le Corbusier in den Zwanzigerjahren beherrscht hatte, wich einem verstärkten Einsatz von Farbe und rauen Materialien wie dem Sichtbeton.Das französische Wort für Sichtbeton (»béton brut«) gab dem Brutalismus, der während der Fünfziger- und Sechzigerjahre in der internationalen Architekturdiskussion eine wichtige Rolle spielte, seinen Namen. Ausgehend von Le Corbusier Nachkriegsstil und Mies' amerikanischen Bauten, diese Leitbilder aber gleichzeitig kritisierend, bemühte sich eine jüngere Generation vor allem britischer Architekten, Funktion, Konstruktion und technische Versorgung des Bauwerks in ihrer tatsächlichen Beschaffenheit offen zu zeigen. Das Resultat, ein oft unversöhnliches, nach landläufigen Begriffen hässliches Erscheinungbild der Bauten, wurde als unverzichtbares Mittel verstanden, einer drohenden formalen Erstarrung der klassisch gewordenen Moderne entgegenzutreten. Wichtige englische Brutalisten waren Peter und Alison Smithson sowie James Stirling; in den USA zeigt vor allem das Werk von Louis Kahn brutalistische Tendenzen.Während des Baubooms der Sechziger- und Siebzigerjahre, der zwar einzelne Meisterwerke hervorbrachte, die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts aber häufig genug in eine qualitativ minderwertige Massenarchitektur übertrug, wurde neue Kritik an der Moderne laut. Großen Einfluss gewannen die Schriften des amerikanischen Architekten Robert Venturi und seiner Partnerin Denise Scott Brown, die in brillanten Analysen Widersprüche zwischen Anspruch und Praxis moderner Architektur herausarbeiteten. Venturi und Scott Brown beklagten den Mangel an Symbolik im Funktionalismus und empfahlen eine neue Orientierung der Architektur an Erscheinungsformen der Alltagskultur. In ihren eigenen Bauten, darunter dem Erweiterungstrakt der National Gallery in London, griffen sie dagegen bevorzugt auf Vorbilder der italienischen Renaissance zurück.Einen vergleichbar radikalen Angriff auf Dogmenbildungen des 20. Jahrhunderts unternahm der Mailänder Architekt und Architekturtheoretiker Aldo Rossi, indem er kritisierte, dass die Moderne sich einseitig auf Problemstellungen der Gegenwart beziehe, und stattdessen forderte, sich neu auf die historische Dimension der Architektur zu besinnen. Der Einförmigkeit der funktionalen Stadt stellte er das zeichenhafte Potenzial und die rhetorische Überzeugungskraft von Monumentalbauten entgegen.Die Thesen Venturis, Scott Browns und Rossis gaben der Baupraxis der »Postmoderne« Nahrung, die während der Achtzigerjahre in sehr verschiedenen Ausprägungen zitathaft auf historische Vorbilder zurückgriff. Viele postmoderne Bauten scheinen inzwischen bereits Episode zu sein: Ihr ehemals kulturkritischer Anspruch hat sich verbraucht, die Pointen ihrer Formzitate erwiesen sich als kurzlebig. Mit ihrer einseitigen Zuspitzung auf das Formproblem in der Architektur und ihrem vergleichsweise geringen Interesse an Funktion und Konstruktion war die Postmoderne nach heutigem Erkenntnisstand eher eine Modeerscheinung als ein tragfähiger Gegenentwurf zur Moderne. Die Frage ihrer langfristigen Wirkung steht insofern schon nach wenigen Jahren auf dem Prüfstand.Obwohl die moderne Architektur seit den Fünfzigerjahren auch aus den eigenen Reihen immer wieder scharf kristisiert und sogar mehrfach totgesagt wurde, gehört sie am Ende des 20. Jahrhunderts noch nicht der Vergangenheit an. Im Gegenteil: Als revidierte Moderne, die ihre überkommenen Dogmen kritisch an den Aufgaben der Gegenwart misst, scheint sie bis heute ihre Reform- und Entwicklungsfähigkeit zu beweisen.Prof. Dr. Andreas TönnesmannBenevolo, Leonardo: Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts. Aus dem Italienischen, 3 Bände. Taschenbuchausgabe München 3-61994.Frampton, Kenneth: Die Architektur der Moderne. Eine kritische Baugeschichte. Aus dem Englischen. Stuttgart 61997.
Universal-Lexikon. 2012.